Raketenforschung in Peenemünde und die TH Berlin

Die Heeresversuchsanstalt Peenemünde war die größte Einrichtung des Dritten Reichs zur Entwicklung und Erprobung von Flüssigkeitsraketen. Im Auftrag des Heereswaffenamts (HWA) und unter der Leitung des Raketeningenieurs Wernher von Braun wurde auf der Ostseeinsel Usedom eine Reihe von Raketenmodellen konstruiert und getestet, von denen das „Aggregat 4" (A 4) in die Serienfertigung gelangte und gegen Ende des Zweiten Weltkrieges unter der Bezeichnung „Vergeltungswaffe 2", kurz V2 gegen englische und belgische Städte zum Einsatz kam. Mit dem großangelegten Bau von Flüssigkeitsraketen für militärische Zwecke betraten alle Beteiligten technisches Neuland, was neben der Bereitstellung von Geld, Arbeitskräften (darunter zahlreiche Zwangsarbeiter) und Material auch das Wissen von Natur- und Technikwissenschaftlern nötig machte. So waren neben militärischen Stellen und Industrieunternehmen auch Hochschulen und Forschungseinrichtungen Teil eines ausgedehnten Netzwerks. Durch Zwangsarbeit in der Raketenproduktion verloren mehr Menschen ihr Leben als bei den teils verheerenden Angriffen auf ausländische Städte.[1]

Bild fehltSteuerungssystem einer A 4-Rakete, Peenemünde, 1942/1945, Bundesarchiv RH8II Bild-B1927-44

Die Pläne für ein militärisches Raketenprogramm reichten bereits in die Weimarer Zeit zurück. Der Leiter der ballistischen Abteilung im Heereswaffenamt und spätere Dekan der Wehrtechnischen Fakultät an der TH Berlin Karl Becker konnte 1929 die Genehmigung für ein Feststoffraketenprogramm erwirken. Vorausgegangen war Beckers Beaufsichtigung der Geheimforschung zu chemischen Kampfstoffen: Becker stellte Überlegungen zu „einer geeignten Trägerwaffe für den Einsatz der giftigen Gase" an und fand in der Raketentechnologie einen potentiellen Kandidaten.[2] Als Mitarbeiter gewann Becker den Weltkriegssoldaten Walter Dornberger, der an der TH Berlin das von Becker initiierte Maschinenbaustudium für Offziere absolviert hatte.[3] Unter Dornbergers Kommando wurde nach 1933 die Raketenforschung massiv vorangetrieben. 1935 hatte er von der TH Berlin die Ehrendoktorwürde erhalten „auf Grund seiner erfolgreichen Arbeiten über die Messung der Ausströmungsgeschwindigkeiten von Gasen bei hoher Temperatur und der hierbei auftretenden Rückstoßkräfte" und stieg 1936 zum Chef der Raketenabteilung im Heereswaffenamt auf.[4] Noch im selben Jahr begann nach anfänglichen Raketentestläufen auf dem südlich von Berlin gelegenen Schießplatz Kummersdorf der Bau einer eigens für die Raketenentwicklung gedachten Anlage auf der Ostseeinsel Usedom - die Heeresversuchsanstalt Peenemünde .

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bezog das Heereswaffenamt die deutschen Hochschulen systematisch in die Arbeitsgemeinschaft „Vorhaben Peenemünde" ein. Das HWA erleichterte so personelle Wechsel aus der Hochschule in den Rüstungssektor und vergab an die Hochschulen Forschungsaufträge, die Modellbildung und maschinelles Rechnen ebenso umfassten wie die Konstruktion von Messgeräten und Raketenbaugruppen.[5] Bemessen an der Zahl der Mitarbeiter im „Vorhaben Peenemünde" war die TH Berlin mit 45 Wissenschaftlern nach der TH Darmstadt und gemeinsam mit der TH Dresden die am zweitstärksten beteiligte Hochschule.[6] Der Forschungsschwerpunkt an den Technischen Hochschulen lag besonders auf der Verbesserung der Steuerungs- und Lenksysteme.[7]

Auch in der chemischen Forschung erzielten Wissenschaftler der TH Berlin Ergebnisse, die für die Raketeningenieure in Peenemünde von Relevanz sein konnten. Eine 1934 an der TH Berlin verteidigte Dissertation etwa trug den Titel „Über die Gewinnung von Wasserstoffperoxyd aus Persulfat".[8] Das auch als T-Stoff bezeichnete Wasserstoffperoxyd war eine Verbindung, die in den A 4-Raketen zur Erzeugung von Dampf für den Betrieb der Treibstoffpumpen verwendet wurde.

Bild fehltSchematische Darstellung der Funktionsweise der A 4-Rakete. In der Zeichnung ist der "T-Stoff-Behälter" mittig oberhalb des "A-Stoff-Behälters" eingetragen. A 4-Fibel, 1944, S. 8.

[1] Pulla: Raketentechnik, S. 13.
[2] Flachowsky: Notgemeinschaft, S. 158.
[3] Neufeld: Rakete, S. 21f.
[4] Baganz: Diskriminierung, S. 273f.
[5] Pulla: Raketentechnik, S. 111f.
[6] Ebd., S. 115.
[7] Neufeld: Rakete, S. 127.
[8] Nagel: Wissenschaft, S. 259.

Literatur

Baganz, Carina: Diskriminierung, Ausgrenzung und Vertreibung. Die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus, Berlin 2013.

Flachowsky, Sören: Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008.

Fraunholz, Uwe; Steinberg, Swen; Beckert, Stefan; Eichkorn, Florian; Marlow, Ulrike; Weise, Stefan: Mitgemacht. Technik- und Naturwissenschaftler der TH Dresden im Nationalsozialismus, Dresden 2012.

Nagel, Günter: Wissenschaft für den Krieg. Die geheimen Arbeiten der Abteilung Forschung des Heereswaffenamtes, Stuttgart 2012.

Neufeld, Michael J.: Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters, Berlin 1997.

Pulla, Ralf: Raketentechnik in Deutschland. Ein Netzwerk aus Militär, Industrie und Hochschulen 1930 bis 1945, Frankfurt/Main 2006.