Der Umgang mit dem Führerprinzip an der Technischen Hochschule

Das Führerprinzip, das nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten als eines der zentralen Rechtprinzipien des NS-Staates etabliert wurde, wurde mit dem Erlass der Vorläufigen Maßnahmen zur Vereinfachung der Hochschulverwaltung am 28. Oktober 1933 auch auf das Hochschulwesen übertragen.[1] Die Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung vom 3. April 1935 schlossen diesen Reformprozess formal ab.[2]

Allerdings ergaben sich massive Probleme in der Umsetzung. Eine der zentralen Schwierigkeiten bestand in der unklaren Definition des Führerprinzips.[3] Die Bedeutung des Führer-Begriffs wurde vorausgesetzt,[4] ohne dass es gelang, ihn rechtsverbindlich zu umreißen. Die womöglich treffendste Formulierung der mit ihm assoziierten Kompetenzen erfolgte bezeichnenderweise erst nach dem Untergang des Dritten Reiches: In der Begründung des Urteils im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher führte der Internationale Militärgerichtshof aus:

Nach diesem Prinzip hat jeder Führer das Recht zu regieren, zu verwalten oder Befehle zu erlassen, unter Ausschaltung jeder irgendwie gearteten Kontrolle und vollständig nach eigenem Ermessen, einzig und allein durch die etwaigen Befehle beschränkt, die er von seinen Vorgesetzten erhielt.[5]

Auf Hochschulebene legten die Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung fest: „Führer der Hochschule ist der Rektor.“[6] Er war somit allein dem Reichserziehungsminister verantwortlich.[7] Neben dem Umstand, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinien nirgends festgeschrieben war, was hiermit gemeint war, erschwerte auch die tradierte akademische Selbstverwaltung die Umsetzung. Der am ‚politischen Reißbrett‘ entworfenen Reform standen mit ihr über Jahrhunderte quasi ‚natürlich gewachsene‘ Entscheidungsmechanismen gegenüber. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die ihrer Mitbestimmung beraubten Ordinarien, sondern auch die Rektoren Vorbehalte gegen das Führerprinzip zu haben schienen und es anscheinend bevorzugten, bestimmte Entscheidungen an die Selbstverwaltungsgremien zu delegieren.

Dies führte dazu, dass das Führerprinzip an den Hochschulen auf unterschiedliche Weise unterminiert wurde[8] – weniger aus einer kritischen Haltung gegenüber dem NS Regime heraus, als vielmehr zur Bewahrung althergebrachter Strukturen und aufgrund einer Ratlosigkeit angesichts des unscharfen Begriffs des Führerprinzips.

Ein an der TH Berlin verbreitetes Verfahren, dessen Mechanismen auszuheben, war es, Abstimmungen zwar formal durch eine Entscheidung des Rektors zu ersetzen, bevor diese erging jedoch den betroffenen Hochschulangehörigen die Möglichkeit zur ‚Stellungnahme‘ einzuräumen. Das folgende Beispiel aus dem Jahr 1934 zeigt, wie dies funktionierte: In einem an den Rektor gerichteten Schreiben vom 23. April fordert der Dekan der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften, Rudolf Rothe:

Im Hinblick auf die Neugründung der fünften Fakultät bitte ich, beim Ministerium zu beantragen, daß der Anteil der Dekane an den Aufnahmegebühren von 15 v. H. auf 20 v. H. heraufgesetzt werde.

Ferner halte ich die Verteilung der Hälfte dieses Anteils im Verhältnis der Studierenden der einzelnen Fakultäten zur Gesamtzahl der Studenten insofern für ungerecht, als nach § 11 des Verfassungsstatuts die Leitung in wissenschaftlicher Beziehung für die ersten beiden Semester aller Fachabteilungen der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften auferlegt ist […]. Die dadurch entstehende erhebliche Mehrbelastung des Dekans der Fakultät I bitte ich bei der Verteilung dadurch zu berücksichtigen, daß zu den Studierenden der Fakultät I noch ein Viertel aller übrigen Studenten hinzugezählt werden, den anderen Fakultäten aber je ein Viertel abgezogen wird.[9]

Rektor Achim von Arnim leitete das Schriftstück mit dem Gesuch an die Dekane weiter: „Abschriftlich vorstehenden Antrag übersende ich Ihnen mit der Bitte um Stellungnahme.“[10]

Der Aufforderung kamen im Laufe rund eines Monats alle Dekane nach.[11] Das Stimmungsbild war deutlich: Die Mehrheit der Ordinarien war gegen den Vorschlag. „Die von Herrn Rothe gegebene Begründung für seinen Änderungsvorschlag gibt mir keine Veranlassung, diesem zuzustimmen“, heißt es etwa seitens der Fakultät für Bauwesen.[12]

Lediglich Oscar Niemczyk stimmte mit Rothe überein: „Gegen den Antrag der Fakultät I erhebe ich mit Rücksicht auf die tatsächlich stärkere Belastung des Dekans der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften gegenüber den anderen Dekanen keinen Einspruch“, schreibt er in seiner Funktion als Vorsteher der Fakultät für Stoffwirtschaft.

Die Entscheidung von Arnims ergeht schriftlich. Sie stützt sich auf die Stellungnahmen der Fakultäten, deren Kernaussagen wörtlich zitiert werden. An die Auszüge aus den Schreiben der Dekane schließt sich die Schlussfolgerung an: „Da somit die Mehrzahl der Fakultäten eine Änderung nicht wünscht, wird von einer Weiterverfolgung der Angelegenheit abgesehen.“[13]

Es wird deutlich, dass der auch im NS-Staat nicht verbotene Vorgang, von einer anstehenden Entscheidung Betroffene Stellung hierzu nehmen zu lassen, genutzt wurde, um das Führerprinzip zu umgehen. Der ‚Oberführer‘, so der offizielle Zusatztitel des Rektors im Nationalsozialismus,[14] übernahm hier de facto lediglich die Rolle eines Wahlleiters. Zweifelsfrei bewegte sich die Hochschule mit diesem Vorgehen mindestens in einer rechtlichen Grauzone, hieß es doch in den Vorläufigen Maßnahmen zur Vereinfachung der Hochschulverwaltung unmissverständlich: „Abstimmungen finden nicht statt.“[15]

Auch das Reichserziehungsministerium (REM), das eine Neuregelung wie die von Rothe vorgeschlagene hätte genehmigen müssen,[16] wurde nicht involviert. Generell scheint die TH nicht nur in Bezug auf Interna bestrebt gewesen zu sein, die tradierten Prinzipien so weit als möglich aufrecht zu erhalten; die Hochschulverwaltung war offenbar auch versucht, die Einflussnahme des REM – und damit der nach dem Führerprinzip dem Rektor direkt vorgesetzten Behörde – so gering wie möglich zu halten, wie der Schriftwechsel im Nachgang des abgelehnten Antrags Rothes zeigt: Rund zwei Monate nach dem ursprünglichen Antrag veranlasst eine verspätet eingegangene zustimmende Stellungnahme des Dekans der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften, Ernst Storm[17] Amtmann Max Bronder bei von Arnim anzufragen, ob das Verfahren „nochmals aufgerollt“ werden solle.[18] Bronder regt einen Kompromiss an, der vorsieht, die Erhöhung der Entschädigung der Dekane auszuklammern und stattdessen lediglich den Verteilungsschlüssel dahingehend zu ändern,

das jetzige komplizierte und zeitraubende Berechnungsverfahren abzuschaffen und die Verteilung etwa in der Weise vorzunehmen, daß die beiden stärksten Fakultäten für Bauwesen und für Maschinenwesen je 25%, die Fakultäten für Allgemeine Wissenschaften und für Stoffwirtschaft je 20% und die Fakultät für Allgemeine Technologie 10% der Gesamtvergütung erhalten.[19]

Der Vorschlag begründet sich nicht allein darin, dass er den Dekanen besser vermittelbar ist. Insbesondere für die Ablehnung eines höheren Entschädigungsanteils führt Bronder einen anderen Grund an:

Zu der von Herrn Prof. R o t h e vorgeschlagenen Erhöhung der Entschädigung von 10 auf 20% der Aufnahmegebühren wäre die Genehmigung des Herrn Ministers einzuholen. Die Änderung des Schlüssels läßt sich durch eine Vereinbarung unter den Dekanen erreichen.[20]

Von Arnim ersucht bei den Fakultäten wiederum um Stellungnahme zu dem Kompromiss, dem daraufhin einstimmig zugestimmt wird.[21] Der Antrag an das REM, den Anteil an den Aufnahmegebühren, der den Dekanen zuging, zu erhöhen, wird zu einer Formalie auf Wiedervorlage,[22] die schließlich rund zwei Monate später endgültig als „aussichtslos“ abschlägig beschieden wird.[23]

Das Beispiel belegt, dass es hochschulintern Bestrebungen gab, sich der Umsetzung des Führerprinzips zu widersetzen. Diese Feststellung ist umso bemerkenswerter, als sie auch für die Rektoratsperioden der überzeugten Nationalsozialisten ab Achim von Arnim gilt,[24] der sich nach eigenem Bekunden die „Durchsetzung nationalsozialistischen Geistes“[25] an der Technischen Hochschule zum Ziel gesetzt hatte. Bereits in der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Übertragung des Führerprinzips auf das Hochschulwesen mitunter als gescheitertes Vorhaben wahrgenommen.[26] Die Motive der Rektoren, Entscheidungen anderen Stellen zu überlassen, scheinen zum einen in dem Unvermögen gelegen zu haben, die tradierten Mechanismen von heute auf morgen abzuschaffen, zum anderen in dem Führerprinzip selbst, das zwar als eines der grundlegenden Prinzipien des NS-Staates angesehen, von der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft jedoch nicht ausreichend umrissen wurde, um daraus konkrete Kompetenzen beziehungsweise die Grenzen dieser Kompetenzen ableiten zu können.[27]

[1] Vgl. Seier: Der Rektor, S. 105.
[2] Vgl. ebd.
[3] Vgl. ebd., S. 105 f.
[4] Vgl. ebd., S. 109.
[5] Zit. nach: Das Urteil von Nürnberg 1946, S. 24. Dafür, dass eine Definition Führerprinzips im Dritten Reich selbst nicht erfolgte, spricht auch, dass das Tribunal für diese Ausführung keine Fundstelle zitiert, obgleich die Urteilsbegründung ansonsten vielfach durch Textbelege untermauert ist.
[6] http://goobiweb.bbf.dipf.de/viewer/image/ZDB991084217_0001/157/#topDocAnchor.
[7] Vgl. ebd.
[8] Vgl. Seier, S. 116 f.
[9] Universitätsarchiv der TU Berlin (fortan zitiert unter der Sigle UB TUB), ZUV alt, 101 11, Bl. 88.
[10] Ebd., Bl. 88 RS.
[11] Vgl. ebd., Bl. 89 f. sowie 93 – 95.
[12] Ebd., Bl. 90.
[13] Ebd., Bl. 96.
[14] Vgl. UB TUB ZUV alt, 101 29, Bl. 28.
[15] Vgl. FN 3.
[16] Vgl. UB TUB, ZUV alt, 101 11, Bl. 97.
[17] Vgl. ebd., Bl. 89.
[18] Vgl. ebd., Bl. 97.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd., Bl. 98 – 102.
[22] Ebd., Bl. 102.
[23] Ebd., Bl. 139.
[24] Vgl. Baganz: Diskriminierung, S. 48 – 63.
[25] Zit. nach Baganz: Diskriminierung, S. 48.
[26] Vgl. Seier: Der Rektor, S. 117.
[27] Vgl. Seier: Der Rektor, S. 105 f.


Literatur

Das Urteil von Nürnberg 1946 (Wortlautausgabe des Urteils im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher nach der amtlichen deutschen Übersetzung). 2. Auflage München 1962.

Baganz, Carina: Diskriminierung – Ausgrenzung – Vertreibung. Die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus. Berlin 2013.

Seier, Hellmut: Der Rektor als Führer. Zur Hochschulpolitik des Reichserziehungsministeriums 1934-1945. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 12. Jahrgang 1964, Heft 2, S. 105 – 146.