Rüstungsforschung – Die Wehrtechnische Fakultät der TH und das Heereswaffenamt

Während der NS-Zeit waren nahezu alle Universitäten und Hochschulen im Reichsgebiet durch Zusammenarbeit mit dem Heereswaffenamt (HWA) an der Rüstungsforschung beteiligt.[1] Die Vernetzung von Hochschule, Ministerialbürokratie und Wehrmacht spielte bei der Einbeziehung der Universitäten und Hochschulen in die nationalsozialistische Rüstungsforschung eine wesentliche Rolle. Die Verbindung der TH Berlin mit dem HWA steht exemplarisch für diese Vernetzung, deren Grundlagen schon in der Zeit der Weimarer Republik gelegt wurden. Vor allem die Wehrtechnische Fakultät (WTF) der TH pflegte ein sehr enges Verhältnis zur Forschungsabteilung des HWA.[2] Zwei zentrale Figuren dieses Netzwerks waren Karl Becker und Erich Schumann, die wichtige Positionen am HWA und an der TH Berlin bzw. der Universität Berlin bekleidet haben.

ZeitleisteDarstellung der Karrieren Karl Beckers und Erich Schumanns zwischen 1905 und 1945 als Zeitleiste; erkennbar sind hier Verflechtungen von Universität/Hochschule, Forschungeinrichtungen und Ministerialbürokratie sowie Kontinuitäten der Rüstungsforschung vor und nach 1933. (erstellt von Theodor Costea, lizenziert unter CC BY 4.0)

Karl Becker war seit 1911 in den Vorgängerorganisationen des HWA, der ‚Artillerie-Prüfungskommission‘, ab 1919 ‚Inspektion für Waffen und Gerät‘, ab Mitte der zwanziger Jahre ‚Heereswaffenamt‘, tätig.[3] Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er 1938 durch die Ernennung zum Chef des HWA. Nach der Gründung der Fakultät für Allgemeine Technologie an der TH Berlin im Jahr 1933 wurde der Ballistiker und Physiochemiker Becker o. Professor und Dekan der neuen Einrichtung. Zwischen der Fakultät und der ehemaligen Militärtechnischen Akademie Charlottenburg, die bis 1920 bestanden hatte, sind personelle und räumliche Kontinuitäten erkennbar. Beispiele dafür sind die vom Ballistiker Carl Cranz bzw. vom Sprengstoffchemiker Otto Poppenberg geleiteten Institute, die im Laboratoriengebäude Kurfürstenallee angesiedelt waren. Der Schwerpunkt der Fakultät wurde zwei Jahre nach der Gründung durch die Umbenennung in „Wehrtechnische Fakultät“ deutlich gemacht. Becker wurde 1933 sowohl ordentlicher Professor als auch ständiger Dekan der neuen Einrichtung, die im Unterschied zu den anderen Fakultäten der TH einen Sonderstatus genoss.[4] Die WTF war eine relativ autonome Einrichtung und hatte von Anfang an durch Becker und andere Mitarbeiter enge Beziehungen zum HWA und zur Ministerialbürokratie. Diese Merkmale waren entscheidend für die Einbeziehung der TH in die Rüstungsforschung.

1934 gründete Karl Becker am HWA unter der Führung Erich Schumanns eine Arbeitsgruppe für Raketenforschung, ein Bereich, für dessen Förderung sich Becker seit der Weimarer Zeit im HWA entscheidend eingesetzt hatte.[5] Schumann, Physiker und Direktor des II. Physikalischen Instituts an der Universität Berlin, war seit 1932 Leiter der Forschungsabteilung. Den größten Anteil an den Außenbeziehungen dieser Abteilung hatten Universitäten und Hochschulen.[6] Bei Bauprojekten des HWA wie der Heeresversuchsstelle Kummersdorf-Gottow 1937-1938 oder des „Seewerks“ Falkenhagen war Wilhelm Loos, Professor an der TH, an der Bauplanung beteiligt.[7] Der Sprengstoffphysiker Günther Braunsfurth, ab 1934 Professor an der WTF, wurde Ende 1939 zusammen mit anderen Wissenschaftlern an das HWA berufen. Er blieb pro forma an der TH Berlin, forschte aber in der Tat für das HWA, möglicherweise auch in Kummersdorf.[8] Die TH Berlin war u. a. mit 45 Wissenschaftlern vom Institut für Schwingungsforschung auch an der Heeresversuchsanstalt Peenemünde beteiligt.[9]

Lageplan 1

Lageplan 2Ausschnitte aus den Lageplänen des Personal- und Vorlesungsverzeichnisses der TH Berlin von 1939–1940 (oben) und 1940–1941 (unten). Das „Laboratoriengebäude Kurfürstenallee“ auf dem Gelände des damaligen HWA beherbergte ab 1934 als bedeutendstes Gebäude der WTF Institute und Labore der Fakultät. (Die benutzten Personal- und Vorlesungsverzeichnisse werden von der Universitätsbibliothek hier und hier als Digitalisate zur Verfügung gestellt und sind unter CC BY 4.0 lizenziert)

Die Rüstungsforschung scheint ein deutlicher Schwerpunkt an der TH Berlin gewesen zu sein. Professoren der WTF arbeiteten regelmäßig mit dem HWA zusammen und betreuten Geheimdissertationen, die möglicherweise zum Teil als Auftragsforschung des HWA entstanden. Entscheidend für die Funktion der Fakultät als „Forschungsanstalt des Heereswaffenamtes“[10] war ein personelles Netzwerk, das schon während der Weimarer Zeit entstand und systematisch die Verknüpfung von Wissenschaft und Wehrmacht konsolidiert hat.

Die inhaltliche Bedeutung der Forschungsergebnisse, die von Wissenschaftlern der TH Berlin im Nationalsozialismus erzielt wurden, ist wegen der mangelhaften Überlieferung von relevanten Quellen sehr schwer einzuschätzen. Es steht allerdings außer Zweifel, dass sich die TH Berlin an der nationalsozialistischen Rüstungsforschung intensiv beteiligt hat und ein wesentlicher Akteur der Vernetzung von Wissenschaft und Militär gewesen ist.


Das Laboratoriengebäude Kurfürstenallee

CranzbauDas Laboratoriengebäude Kurfürstenallee, das heute als Cranzbau bekannt ist und sich an der Hertzallee in unmittelbarer Nähe der Universitätsbibliothek auf dem Campus Charlottenburg befindet (Foto von Burkhart Rüchel, erstellt im Jahr 2014, lizenziert unter CC BY-SA 3.0)

1904-1905 wurde an der Kurfürstenallee (heute Hertzallee) ein neues Gebäude für Labore der Militärtechnischen Akademie (MTA) errichtet. Heute wird dieses Gebäude, in Anlehnung an den Ballistiker und Leiter der MTA Carl Cranz, als Cranzbau bezeichnet. Er hat an diesem Standort ein Laboratorium für Ballistik eingerichtet und langjährig geleitet. Der spätere Dekan und Professor der Wehrtechnischen Fakultät (WTF) Karl Becker hat an der MTA studiert und ist anschließend 1909-1911 als Assistent am ballistischen Laboratorium bei Cranz tätig gewesen.

Der Erste Weltkrieg brachte die Schließung der MTA mit sich. Das Cranzsche Laboratorium für Ballistik wurde allerdings zunächst an die Artillerie-Prüfungskommission und später als „Institut für Technische Physik“ an die TH Berlin angegliedert und betrieb entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrages weiter ballistische Forschung. Unter dem gleichen Dach befand sich zu diesem Zeitpunkt auch das Institut für Sprengstoffchemie unter der Leitung von Otto Poppenberg. Beide Institute wurden ab 1933-1934 Teil der neugegründeten Fakultät für Allgemeine Technologie (später Wehrtechnische Fakultät). Zusätzlich wurde das II. Institut für technische Physik der Universität Berlin unter der Leitung Erich Schumanns im gleichen Gebäude an der Kurfürstenallee untergebracht.[11] Diese drei Institute arbeiteten in der NS-Zeit eng mit dem unmittelbar benachbarten Heereswaffenamt (HWA) zusammen.

Schon zur Zeit der MTA und während der Zwischenkriegszeit bestanden durch Carl Cranz und Karl Becker enge Kontakte zu den Vorläuferinstitutionen des HWA, der Artillerie-Prüfungskommission und später der Inspektion für Waffen und Gerät. Es liegt nahe, dass die Gründung der WTF an der TH Berlin und die Zusammenarbeit mit dem HWA im Bereich der Rüstungsforschung auf einem lang etablierten institutionellen und personellen Netzwerk beruhten. Das Laboratoriengebäude Kurfürstenallee steht somit gewissermaßen exemplarisch für diese Kontinuitäten über historische Zäsuren hinweg und für die Verstrickung der Hochschule in die Rüstungsforschung.

[1] Nagel, Wissenschaft, S. 53.
[2] Ebd. S. 56.
[3] Ebert / Rupieper, „Technische Wissenschaft“, S. 470f.
[4] Ebd. S. 474, vgl. Kändler, Anpassung, S. 151f.
[5] Nagel, Wissenschaft, S. 35.
[6] Ebd. S. 53.
[7] Ebd. S. 36.
[8] Ebd. S. 46.
[9] Neufeld, Die Rakete, S. 126f.
[10] Ebert / Rupieper, „Technische Wissenschaft“, S. 487.
[11] Nagel, Wissenschaft, S. 67.


Literatur

Ebert, Hans; Rupieper, Hermann-Josef: „Technische Wissenschaft und nationalsozialistische Rüstungspolitik. Die Wehrtechnische Fakultät der Technischen Hochschule Berlin 1933-1945″, in: Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879-1979, Bd. 1, hrsg. von Reinhard Rürup, Berlin, Heidelberg, New York 1979, S. 469-494.

Kändler, Wolfram C.: Anpassung und Abgrenzung. Zur Sozialgeschichte der Lehrstuhlinhaber der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg und ihrer Vorgängerakademien, 1851 bis 1945, Stuttgart 2009.

Nagel, Günter: Wissenschaft für den Krieg. Die geheimen Arbeiten der Abteilung Forschung des Heereswaffenamtes, Stuttgart 2012.

Neufeld, Michael J.: Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters, Berlin 1997.